Was mache ich hier eigentlich...?


Was mache ich hier eigentlich?

Es ist gegen drei Uhr nachts und die Wärmflasche zwischen meinen Füßen verliert allmählich ihre aufgestaute Wärme. Fünf Lagen umhüllen meinen Oberkörper, Thermounterhose und meine Wolldecke für Außeneinsätze versuchen die Beine warmzuhalten. In den beiden Taschenöfen glimmen seit Stunden zwei kleine Kohlestäbchen und wärmen die Bereiche meiner Hosentaschen (geniale Erfindung). Ich hocke in verkrümmter Position und starre seit Stunden in das beleuchtete Nachführokular um diesen verdammt schwachen Stern im Doppelfadenkreuz zu halten. Immer mit dem rechten Daumen die vier Richtungstasten abwechselnd betätigend, um die Motore der Montierung mal etwas schneller oder langsamer laufen zu lassen. Aber die Luft ist ruhig und die Nachführung läuft einigermaßen ordentlich, so dass es nicht allzu viel zu tun gibt. Diese Maßnahme ist erforderlich, um die kleinen Abweichungen, die auch die beste Montierung etwas ungleichmäßig laufen lässt, auszugleichen. Die Außentemperatur beträgt minus 14º C und die Hülle des Newton-Teleskops ist schon seit zwei Stunden von einer weißen Raureifschicht überzogen. Dass diese Nacht so kalt werden würde, ist nicht vorhergesagt worden, aber dafür ist die Nacht so klar wie lange nicht mehr.

 In der Aufnahmeoptik ist NGC 6888, der Crescentnebel, eingestellt. Jetzt, Mitte März, ist die Milchstraße in den frühen Morgenstunden gerade soweit im Osten emporgestiegen, dass man diesen besonderen Nebel schon erreichen kann. Und während ich mit dem einen Teil meines Gehirns auf dieses „stupide Videospiel“ im Nachführokular konzentriert bin, den besagten schwachen Stern im Zentrum des Okulars zu halten, driftet ein anderer Teil meines Hirns in den Spätsommer des vergangenen Jahres ab. Denn da hatte ich genau diesen Nebel ebenfalls im Visier – damals allerdings weit im Westen. Nur welch ein Gegensatz: Da war es nämlich warm und ich saß im T-Shirt mit Sandalen an den Füßen vor demselben Okular wie eben jetzt und ich spürte kleine Schweißperlen an den Ohren herab laufen. Mindestens meine halbe Konzentration war aber nicht auf den schon beschriebenen Leitstern gerichtet, sondern auf das beständige Summen einiger angriffslustiger Mücken. Am plötzlich abbrechenden Summen wollte ich die Landeplätze dieser kleinen Monster auf meiner Stirn lokalisieren und diesen Viechern dann im Überraschungsangriff den Garaus machen. Habe ich eigentlich allein das Gefühl, dass Mücken es besonders heimelig an unseren Ohren empfinden – das ist Astrofotografie. Und damit soll dieser kleine Rückblick in die Anfänge meiner Astrofotografie auch beendet sein.

 Es war und es ist in gewisser Hinsicht eine „sportliche Angelegenheit“ sich auf diesem Weg den Objekten des Universums zu nähern. Warum also machen wir so etwas? Nun, der angesprochene Crescentnebel ist nicht irgendein Nebel, es ist ein Wolf-Rayet-Nebel. Der Zentrale Stern von mindesten vierzig Sonnenmassen beschleunigt mit seiner Strahlung die eigene Materie, die nun mit der vor Jahrmillionen bereits abgestoßenen Hülle kollidiert – und wir werden Zeuge dieser Vorgänge. An derartigen Geschehnissen teilzunehmen, ist pure Faszination. Als Amateur, mit eigenen mehr oder weniger bescheidenen Mitteln, solche Prozesse zu verfolgen, lässt uns ein wenig an den großen Prozessen der Natur teilhaben.

 Mindesten zehn Einzelaufnahmen a’ 10 min (besser mehr) sind notwendig, um ein ordentliches Astrofoto des tiefen Himmels zu gewinnen. Die Neuerungen der digitalen Fotografie haben zwar eine Revolution der Aufnahmetechnik ausgelöst, aber eben auch die Möglichkeit eröffnet, viele Aufnahmen jetzt zu einem deutlich besseren Gesamtergebnis zu kombinieren. Und wenn wir früher mit der herkömmlichen analogen Technik auf Film in max. 40 min Einzelbelichtungszeit eine einzige Aufnahme gewinnen konnten, so erreichen wir dieses Ergebnis jetzt mithilfe der digitalen Fotografie in 10 min – aber in deutlich besserer Qualität. Doch was tun wir? – wir verlängern die gesamte Aufnahmezeit, indem wir jetzt viele Einzelaufnahmen aufnehmen und nun insgesamt noch länger für ein Objekt verwenden, als wir es je zuvor getan haben. Und warum? Weil es geht und das Endergebnis eben noch etwas besser ausfällt. Wir wollen eben immer mehr – so ist das nun mal. Das Ergebnis unserer nächtlichen Unternehmungen ist eben weit mehr, als „nur“ eine schöne Aufnahme eines Objektes des tiefen Himmels jenseits der Planetenbahnen. Wir können damit dokumentieren und analysieren, was in und um Sternhaufen, Gas- und Staubnebeln und fernen Galaxien vorgeht.

 Es ist in der heutigen Zeit bemerkenswert, wie „einfach“ man in dieses Metier der Astrofotografie einsteigen kann. Das soll nun aber nicht bedeuten, dass es genügen würde, eine Kamera und ein Teleskop zu kaufen. Die grundlegenden Probleme der Astrofotografie sind unverändert – und sie sind sehr komplex. Man muss es schon sehr wollen, sich den Tiefen des Kosmos auf diese Weise zuzuwenden. Die angebotenen Gerätschaften, die man dafür benötigt, sind aber vielfältig und in hoher Qualität zu verhältnismäßig annehmbaren Preisen zu bekommen.

 Es ist inzwischen Frühjahr geworden und es ist die Zeit der Galaxien. Gegen 21:00 Uhr ist es so dunkel, dass Aufnahmen sehr lichtschwacher Objekte möglich sind. Wir blicken jetzt aus der Spiralscheibe unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, so heraus, dass kaum Staub und Gas unseren Blick behindern. In diesen Regionen gibt es kaum einen Ort, der uns nicht eine Vielzahl an Galaxien präsentiert. Die Sternbilder „Jagdhunde“, „Haar der Berenice“ und „Jungfrau“ beheimaten besonders lohnende Zielgebiete. Ich möchte in dieser Nacht das Galaxiengewimmel in der Jungfrau, den Virgo-Galaxienhaufen besuchen und versuchen, zumindest einen Ausschnitt daraus zu dokumentieren. Da ist einerseits das ungeheure „Gewimmel“ von Galaxien, dass es Beobachtern schwer macht, nicht die Orientierung zu verlieren, und da sind andererseits bemerkenswerte Einzelgalaxien, die es lohnen ein Portrait davon fotografisch zu erstellen. Ich muss mich jetzt entscheiden, ob der Refraktor mit  540 mm Brennweite oder der Newton, mit seinen beachtlichen 1700 mm Brennweite, zum Einsatz kommt. Schon hier sollte klar überlegt und vorbereitet sein, was man erreichen möchte. Nun, ich entscheide mich für den Refraktor und werde versuchen, das Zentrum des Virgo-Galaxienhaufens mit der nach Benjamin Markarian (1913 – 1985) benannten Galaxienkette aufzunehmen.

 Inzwischen muss ich nicht mehr sklavenhaft den eingangs beschriebenen Leitstern im Nachführokular beobachten und die Abweichungen per Hand korrigieren. Das erledigt eine zusätzliche Kamera, deren Bildsignal von einem Computer mit geeignetem Programm ausgewertet wird. Die von dem Computer erzeugten Signale erledigen nun das, was ich bisher von Hand tun musste – eine enorme Erleichterung.

 Beobachter und Fotografen haben immer wieder gewisse Differenzen darüber, ob es nun sinnvoller ist zu fotografieren, oder ob die unmittelbare Beobachtung das Authentischere ist. Ich finde, beide Methoden sind vollkommen gleichberechtigt. Dass ich mit dieser Betrachtung nun eine Lanze für die Fotografie zu brechen versuche, liegt nur daran, dass ich mich nun mal der Fotografie verschrieben habe und mich der Faszination dieser Technik nicht mehr entziehen kann. Dabei bedaure ich es manchmal, nicht gleichzeitig auch beobachten zu können. Leider fordert die Aufnahmetechnik, so automatisiert sie inzwischen auch geworden ist, meine ständige Überwachung und Konzentration. So gilt für mich, nicht beides gleichzeitig zu tun. Lediglich mein Feldstecher ist ständiger Begleiter meiner nächtlichen Exkursionen. Damit habe ich, als kleine Entspannungsübung, die Möglichkeit, ab und an auch direkt in das Gewimmel der Sterne abzutauchen.

 Wir Astrofotografen in der Astronomischen Vereinigung Lilienthal sind sehr bemüht darum, die vielen technischen Belange der Aufnahmetechnik nicht ausschließlich zu betrachten – so wichtig sie auch sind. Unsere eingesetzte Technik ist Mittel zum Zweck. Wir wollen auf keinen Fall die Objekte, die wir aufnehmen, vernachlässigen. Wir wollen Erkenntnisse über die Beschaffenheit dieser vielfältigen Objekte gewinnen. Die Fotografie ist dabei ein großartiges Mittel, sich diesem Ziel zumindest etwas anzunähern.

 Liebe Leser, in die astronomische Beobachtung einzusteigen ist heute bezahlbar und verhältnismäßig einfach geworden. Wir, die Mitglieder der Astronomischen Vereinigung Lilienthal, haben uns dieser Zielsetzung zugewandt. In unseren Arbeitsgruppen existieren vielfältige Möglichkeiten, sich den Ursprüngen unserer Existenz zu widmen. Ich möchte Sie ermuntern, sich den Arbeitsgruppen anzuschließen. Ob es die Astrophysik ist, die Beobachtung, oder vielleicht ja die Fotografie, wir verfolgen des gleiche Ziel. Und damit komme ich zurück zu der in der Überschrift dieser kleinen Betrachtung gestellten Frage, was ich hier nämlich eigentlich mache. Ich, oder besser gesagt wir, beschäftigen uns mit der wohl ursprünglichsten Frage, die uns Menschen antreibt zu forschen: Nämlich die Frage nach unseren Ursprüngen und dem, wohin wir uns entwickeln werden.

Grasberg/Otterstein im August 2011